Es war einer der sehr kalten Tage im Januar 1945. Auf dem Hof der Lipowskis in Blumenau wurde das Vieh wie immer versorgt, die Kühe wurden gemolken und der Schnee von den Wegen zur Seite geschoben. Die Lipowski-Töchter: Ria mit ihren drei Kindern, Liesel, Gerda und Ursel nahmen Platz an dem Tisch in der Küche. Die Mutter räumte noch etwas in der Waschküche um, der Vater wärmte sich die Hände und den Rücken am Kachelofen. Im Haus befanden sich noch einige Menschen, die bereits auf der Flucht waren. Seit Tagen war tags und nachts Artilleriefeuer zu hören, das immer näherkam. An dem Morgen herrschte aber eine bedrohliche Ruhe und eine kaum zu ertragende Spannung kam auf. Die Mutter versuchte die Familie zu beruhigen. Ähnliches hätte sie im ersten Weltkrieg erlebt. Damals waren russische Soldaten auf den Hof gekommen, erzählte sie. Sie hatten nach deutschen Soldaten Ausschau gehalten, und da sie keine gefunden hatten, waren sie weitergezogen.
Noch hatte niemand im Haus gemerkt, dass sich ein Stoßtrupp Rotarmisten auf Panjewagen dem Hof näherte. Die Mutter bat Liesel, das gepökelte Fleisch in den Keller zu bringen. In dem Moment erreichten die Soldaten den Hof. Einige stürmten sofort ins Haus, andere verteilten sich auf dem Hof. In großer Hektik durchsuchten sie die Zimmer. Einer der Soldaten kam in die Küche. Er sah die um den Tisch sitzenden Menschen, zog eine Granate hinter dem Bauchgurt hervor, stellte sie auf den Tisch und gab zu verstehen, dass sie explodieren würde, sobald sich jemand rührte. Die um den Tisch versammelten, vor Schreck erstarrten Familienmitglieder konnten nicht wissen, dass die Granate nicht entsichert war. In dem Augenblick fiel draußen ein Schuss, der ein entsetztes Raunen in der Küche auslöste: Wer wurde dort erschossen?
Liesel bekam mit, dass im Haus etwas Bedrohliches geschah und hatte Angst, aus dem Keller hinauszugehen. Sie werden mich erschießen, dachte sie. Aus einem Impuls heraus warf sie einige Kartoffeln in ihre Schürze und stieg langsam die Treppe hoch. Ein Rotarmist sprang zu ihr und brüllte ihr etwas zu. Sie verstand ihn nicht, zeigte aber auf die Kartoffeln in der Schürze, und der Soldat beruhigte sich.
Ein weiterer Soldat kam hinzu und forderte Liesel auf, ihm ein Essen zu kochen. Als es serviert wurde, ergriff der Soldat Hans-Georg, den kleinen Sohn von Ria, setzte ihn sich auf den Schoß und befahl ihm, von der Speise zu kosten. Hans-Georg hatte Hunger und stürzte sich auf das Essen, was dem Rotarmisten nicht gefiel. Er stieß das Kind zur Seite, begann zu essen und erlaubte auch seinem Kameraden, davon zu nehmen.
Kurz vor der Dämmerung verschwanden die Rotarmisten, und es kehrte wieder Ruhe ein. Gerda war die Mutigste und traute sich nach draußen, um zu schauen, wer dort erschossen wurde. Weinend kehrte sie zurück und sagte:
„Die haben unseren Hund erschossen!“
Als die Nacht einbrach, hörten sie ein leises Klopfen an der Tür. Sofort kehrte die Angst zurück. Vater Lipowski ging zur Tür und öffnete. Draußen standen acht versprengte, völlig erschöpfte und verfrorene Soldaten der Waffen-SS und baten um Einlass. Vater Lipowski wollte sie nicht hereinlassen, denn wenn die Rotarmisten es mitbekämen, wäre es um sie alle geschehen. Die deutschen Soldaten beschwichtigten ihn und berichteten, die Sowjets hätten sich ins Dorf zurückgezogen. Sie wollten sich nur aufwärmen und baten um etwas Verpflegung. Noch in der Nacht würden sie abziehen und ihre Spuren verwischen. Ein Soldat blieb draußen, um Wache zu halten, der Rest kam ins Haus. Ein junger Soldat weinte laut, ihm waren die Zehen abgefroren!
Liesel musste in dieser Nacht wieder kochen. Sie tauschten Adressen aus. Am Morgen, noch im völligen Dunkel, zogen die acht Soldaten ab. Wo sie geblieben waren, haben die Lipowskis nie erfahren.