„Es fährt kein Zug mehr nach Nirgendwo“ von Elisabeth Tondera

Die Wegbiegung so vertraut. Wie oft haben ihre Füße sie durchwandert, manchmal flott und beschwingt, manchmal schmerzend und lahm. Wie lange ist es her? Der Weißdorn, der den Weg im Mai in einen süß duftenden Tunnel verwandelt, in dem die schwirrenden Bienen, Hummeln, Marienkäfer und andere Insekten, deren Namen sie nicht kennt, ein berauschendes Frühlingskonzert geben, bildet jetzt einen dunkelgrünen, rot gesprenkelten, undurchsichtigen Rahmen für die jetzt asphaltierte Straße. Damals hat es hier und da eine Lücke gegeben, durch die sie die roten Dächer der versprengten Höfe sehen konnte. So ist es doch gewesen? Oder spielt ihr die Erinnerung etwas vor? Sie weiß, wie unzuverlässig die Bilder der Vergangenheit sind. Wie lange ist es her, dass sie die Bahnbrücke zuletzt betreten hat? Von den Schienen darunter, die damals in der Tiefe glänzten, ist nichts mehr zu sehen. Buchen, Birken, Weiden, Gräser und Büsche, die sie nicht bestimmen kann, haben eine undurchsichtige Überdachung gewoben. Der kleine Bahnhof ist von hier aus nicht mehr zu sehen. Gibt es ihn überhaupt noch? Es fährt kein Zug mehr nach Nirgendwo. Sie lächelt, schüttelt den Kopf. Warum kommt ihr diese Schlagerzeile in den Sinn? Der Zug hat ein Ziel gehabt. Aber nie sind sie bis zur Endstation gefahren, sie hat nur deren Namen gekannt: Górowo Iławiecke. Doch der Ort ist für sie ein Phantom gewesen, ein Nirgendwo. Immer ist sie auf der vorletzten Station ausgestiegen, in Lidzbark Warmiński. Dort hat die Familie eingekauft, später ist sie dort jeden Sonntagabend hin und jeden Samstagnachmittag zurückgefahren. Es gab keine andere Möglichkeit, zur Schule zu kommen. In der Woche musste sie bei fremden Menschen in der Stadt wohnen.

Manchmal, als sie noch Kind gewesen war, fuhr sie mit ihrem Vater und der kleinen Schwester sonntags zur Kirche. Danach gingen sie ins Kino. Um 11 Uhr gab es dort eine Kindervorstellung. Wie sie dieses seltene Vergnügen liebte! Zu Hause hatte es nur ein batteriebetriebenes Radio gegeben. Nicht immer war eine Ersatzbatterie da. Dann war es still im Haus, nur ihre Stimmen hallten durch die großen Räume. Dann gab es keine Kindersendung, der sie mit dem Ohr am Empfänger mit klopfendem Herzen und heißen Wangen lauschte. Vor allem gab es dann nicht die beliebte Rundfunkserie „Matysiakowie“ an den Sonntagabenden, das Hörspiel über eine Warschauer Familie, die nebenher das Geschehen im Land und der Welt kommentierte. Sonntag für Sonntag versammelten sich Mutter, Vater und die beiden Töchter um den Radioapparat und nahmen am Leben der Matysiaks teil. Ohne diese halbe Stunde fremden, fiktiven Familienlebens fehlte der Woche etwas. 

Tagsüber drehten die Mädchen das Radio auf, wenn Musik kam, am liebsten mochten sie Schlager. Dann sangen sie laut mit, den Text nach Gehör zusammengestückelt, und verstanden nicht, dass die Mutter nicht genauso beschwingt war, sondern oft rief, sie sollten den „Krach“ ausschalten. Sie brauchte Ruhe bei der Arbeit, die nie ein Ende nahm auf dem großen Hof, den die Eltern allein bewirtschafteten. Wobei „bewirtschaften“ ein viel zu hoher Begriff ist für die Plackerei, die lediglich bewirkte, dass sie irgendwie zurechtkamen. Den Vater interessierte die Landwirtschaft nicht, und die Mutter? Es war ein verzweifelter Kampf gegen den Verfall, den sie nicht gewinnen konnte.

Wie weit haben die Gedanken sie in die Vergangenheit zurückgeführt. Immer noch steht sie auf der Brücke, den Blick mal in die Ferne, mal in das dichte Grün unter der Brücke gerichtet. Wie oft waren sie hüpfend über die Schwellen zum Bahnhof gegangen oder gerannt, der Zug manchmal schon pfeifend hinter ihnen her. Dann mussten sie die Schienen freigeben, sprangen zur Seite, rannten keuchend dem Zug hinterher, der auf dem Bahnhof auf sie wartete. Man hatte damals ein persönliches Verhältnis zum Lokführer und Schaffner. Das galt besonders für den Vater. Wenn er aus der Stadt nach Hause kam, war er nie nüchtern. Sie weiß nicht, wie er es anstellte, aber er schaffte es gelegentlich, den Lokführer davon zu überzeugen, an einem Weg zwischen zwei Bahnhöfen anzuhalten und den Vater aussteigen zu lassen, weil es von dort aus näher nach Hause war. Wenn die dicke Schaffnerin Dienst hatte, war so etwas nicht denkbar. Sie war berüchtigt für ihre schlechte Laune. Wehe, man hatte keine Fahrkarte! Wenn sie spät dran waren und dem Zug hinterherrennen mussten,  konnten sie nicht auch noch verlangen, dass der Lokführer wartet, bis sie die Fahrkarte gekauft haben.

Sie lächelt. War es wirklich so gewesen? Hat sie es so erlebt oder träumt sie nur? Die Bahnstrecke, die der Zug siebenmal täglich passierte, war für sie die wichtigste Verbindung zur Außenwelt, die damals eng bemessen war: Lidzbark, ganz selten mal Olsztyn, noch seltener Posen, in dessen Umgebung Vaters Verwandtschaft lebte. Den Rest der Welt fand sie in Büchern, die Wochenschau vor dem Kinofilm zeigte in zehn Minuten das Wichtigste, was in der Welt in der vergangenen Woche geschehen war, manche Radiosendung entführte sie in fremde Länder. Der Fernseher kam erst spät hinzu, da lebte sie schon nicht mehr zu Hause. Früh hatte sie in die Welt hinausgehen müssen, zunächst nur einen Katzensprung entfernt zur weiterführenden Schule nach Lidzbark. Früh musste sie lernen, in kleinen Zimmern bei fremden Menschen zu wohnen, das Heimweh, die Sehnsucht nach der Weite der Landschaft, nach der Leere der großen Räume im Haus, nach Ruhe und Freiheit in sich einzuschließen. Erst viele Jahre später, als sie mit ihrer eigenen Familie eigene Räume bewohnte und ihren Garten eine Steinmauer schützte, fühlte sie sich wieder zu Hause. 

Sie hebt den Kopf, geht die vom Weißdorn umrahmte gewundene Straße hinunter. Alles so vertraut und doch verändert. Von dort aus, wo die Weißdornhecke endet, konnte sie früher das Scheunendach sehen. Jetzt schützen hohe Bäume und Büsche das Anwesen vor fremden Blicken, nur die Dazugehörigen wissen, wo sie hinschauen müssen. Auch die Eiche, die früher einsam auf dem Hügel in der Nähe des Hofes majestätisch ihre Krone ausbreitete und ihr signalisierte: Dort ist dein Zuhause, ist inmitten der in all den Jahren gewachsenen dichten Bäume nur noch zu erahnen. Sie kann dieses Wahrzeichen aber noch erkennen.