Die Bücher des Abends „Nachlese zur Leipziger Buchmesse“

„Die Entdeckung des Himmels“ von Harry Mulisch

Eines meiner Lieblingsbücher!

Ein fast 900 Seiten starker Roman, der in, man kann schon fast sagen „ausufernder“ Art und Weise, ganz große Themen behandelt, nämlich Freundschaft und Liebe; Wissenschaft und Religion; Gott und Teufel und Leben und Sterben.

Im Mittelpunkt des Romans steht die Männerfreundschaft zwischen Max Delius und Onno Quist. Max ist Astronom und Frauenheld und Onno ein monogamer, zynischer Philologe. Der eine ist der Sohn einer Jüdin und eines der größten Kriegsverbrecher der Niederlande, der andere stammt aus einer calvinistischen Politikerfamilie. Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein können und zwischen die, vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an, kein Blatt mehr passt.

Eines Tages tritt die Cellistin Ada in das Leben der beiden Männer und aus dieser Dreiecksbeziehung entsteht ein Sohn, Quentin, der von Max und von Adas Mutter großgezogen wird, obwohl Onno glaubt, dass es sein leibliches Kind ist und er nicht ahnt, dass sein bester Freund Max eine kurze Liebschaft mit Ada hatte.

Klingt kompliziert? Ist es auch und muss es auch sein, allerdings nicht für den Leser, sondern für die zwei Engel, die den Rahmen der Geschichte bilden. Sie sind nämlich von Gott beauftragt, den Pakt mit den Menschen aufzulösen. Die Menschen haben sich vom Glauben abgewandt und der Wissenschaft zugewandt und sie zerstören die Schöpfung. Um den Vertrag mit Gott zu lösen, bedarf es eines Auserkorenen, der sich einer Prüfung stellen muss. Und ein solcher kann heute allerdings nicht mehr durch göttliche Fügung ernannt werden, sondern nur über Genetik. Und so müssen die beiden Engel über drei Generationen für allerlei komplexe Geschehnisse sorgen, damit Quinten geboren wird und mit bestimmten Interessen und Fertigkeiten ausgestattet ist. Schnell weiß man als Leser, dass die seltsamen und grausamen Geschehnisse kein Zufall sind, sondern, dass genau diese Begebenheiten notwendig sind, damit Quinten seinen himmlischen Auftrag erfüllen kann.

Die Entdeckung des Himmels ist einerseits ein Buch, dass sich mit großen Fragen beschäftigt und das andererseits auch einen Blick auf die Geschichte der Niederlande seit dem zweiten Weltkrieg bietet.

In den Niederlanden wurde Harry Mulisch oftmals mit Thomas Mann oder Robert Musil verglichen. Er ist ein großer Erzähler, der übrigens mehrfach als Anwärter für den Literaturnobelpreis galt, ihn aber nie erhielt.

Ich gebe unumwunden zu, dass 900 Seiten nicht immer voller Motivation zu lesen waren, aber auch das Durchhalten hat sich gelohnt und so ist „Die Entdeckung des Himmels“ auch nach so vielen Jahren eines der Bücher, an die ich immer wieder zurückdenke und das in meinen TopTen landet!

Rowohlt Verlag, ISBN 978-3-499-13476-0, 880 Seiten


Und falls Sie sich nicht an die 900 Seiten wagen, gibt es auch ein wirklich gutes Hörspiel, das ich Ihnen empfehlen kann:
Der Hörverlag, ISBN 978-3-8445-0664-8


„Das Attentat“ von Harry Mulisch

Harry Mulisch wurde 1927 geboren. Sein Vater war für die Arisierung jüdischen Eigentums zuständig und seine Mutter war Jüdin. Die beiden ließen sich scheiden, aber sein Vater konnte, aufgrund seiner Kollaboration mit den Nazis, seiner Ex-Frau und seinem Sohn das Leben retten. Allerdings wurden alle anderen Familienmitglieder mütterlicherseits deportiert.

Dass Mulisch in diesem extremen Spannungsfeld aufwuchs, prägte sein schriftstellerisches Werk maßgeblich.

So behandelt das Buch „Das Attentat“ von 1982 die Zeit der deutschen Besatzung in den Niederlanden und erzählt von Kollaboration und Widerstand unter der deutschen Besatzung.

Rowohlt Verlag, ISBN: 978-3-499-22797-4, 192 Seiten


„Die Beichte einer Nacht“ von Marianne Philips

Ich las diesen Roman im Frühjahr 2021, zugegeben weil ich Titel und Cover so ansprechend fand und ich war mit dem ersten Satz gefesselt:

„Ich setze mich zu Ihnen, Schwester. Das ist nicht erlaubt, ich weiß. Aber ich mache es trotzdem – ich habe so lange nicht mehr auf einem Stuhl gesessen, an einem Tisch mit einer Lampe darauf. Verstehen Sie, warum man Verrückte ins Bett steckt, als wären sie krank?“ (S. 7)

So beginnt der Monolog der Protagonistin, in dem sie ihre Lebensgeschichte erzählt, die in einer Tragödie endet. Ein Monolog, der eine Beichte ist.

Ihr Name ist Heleen und sie ist die älteste Tochter einer protestantischen Arbeiterfamilie Anfang des letzten Jahrhunderts. Sie wächst mit ihren neun anderen Geschwistern in einem kleinen niederländischen Dorf auf. Ihr Vater ist ein Tyrann, der krankheitsbedingt ans Bett gefesselt ist, so dass die Mutter arbeiten muss, und Heleen die Pflichten im Haushalt und die Erziehung ihrer Geschwister übernehmen muss. Insbesondere muss sie sich um die jüngste Schwester Lientje, eine Nachzüglerin, kümmern. Zeitgleich macht sie eine Ausbildung zur Schneiderin und träumt von einem besseren Leben.

Heleen ist eine sehr schöne Frau und ihr Aussehen bringt ihr die Aufmerksamkeit verschiedener Männer ein. Eines Tages begegnet ihr im Dorf ein Handelsvertreter, der ihr Arbeit als Schneiderin in der Stadt besorgt. Ihr Weg führt sie weiter und sie wird zuerst Verkäuferin und dann Managerin der Luxusartikelabteilung in einem großen Kaufhaus. Als sie den deutlich älteren und wohlhabenden Charles Gould heiratet, gibt sie die Karriere für ihn auf. Die beiden lassen sich scheiden und Heleen ist wieder auf sich selbst gestellt. Da sie nun auch ihre jüngste Schwester Lientje bei sich aufnehmen muss – die Mutter ist gestorben – , bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich wieder als Schneiderin zu verdingen.

Dann lernt Heleen Hannes kennen. Er ist Lientjes Schwimmlehrer und die beiden verlieben sich ineinander. Hannes ist Heleens große Liebe. Doch er ist einige Jahre jünger als sie selbst und bald nagen Selbstzweifel und Eifersucht an ihr.

Als Leserin hatte ich die Rolle der Nachtschwester eingenommen und hörte mir Heleens Beichte an, ahnte, dass alles auf eine große Katastrophe hinauslaufen wird und hoffte doch, dass es ein gutes Ende für die sympathische Frau nehmen wird. Wohlwissend, dass dies nicht der Fall sein kann, denn sie hält ihren Monolog in einer „Irrenanstalt“. Immer wieder überkam mich das Gefühl, dass sie nicht weitererzählen soll, dass dann das „Schlimmste“ nicht passieren wird, aber ich konnte sie einfach nicht unterbrechen, ich konnte nicht aufhören zu lesen!

Marianne Philips hat ein eindringliches, tiefenpsycholgisches Portrait über eine Frau geschrieben. Sie legt Heleens Qualen schonungslos offen und ich habe wirklich bis zum Ende gebangt, dass doch alles gut ausgeht.

Wenn man jetzt auch noch weiß, dass dieses Buch bereits 1930 geschrieben wurde und erst gut 80 Jahre später wiederentdeckt und auch ins Deutsche übersetzt wurde, um so beeindruckender. In dieser Zeit war es zum einen eher untypisch, dass Frauen überhaupt als Schriftstellerin tätig waren. Noch seltener kam es vor, dass Frauen dann auch noch über komplexe psychische Prozesse schrieben. Marianne Philips schrieb mehrere Romane und Novellen und war auch als Politikerin tätig. Allerdings war ihr als Jüdin ab 1940 untersagt, beides weiterfortzuführen. Unter anderem führten wohl diese Gründe dazu, dass sie in Vergessenheit geriet. Ein Glück für uns, dass diese Autorin wiederentdeckt wurde!

Diogenes Verlag, ISBN: 978-3-257-61142-7, 288 Seiten


„Nach Mattias“ von Peter Zantingh

Der Roman erschien im Februar 2020 und ist, meiner Meinung nach, Corona zum Opfer gefallen. Mich hatte dieser Roman damals zutiefst beeindruckt.

In mehreren Episoden wird von unterschiedlichen Menschen erzählt, wie sie nach dem Tod von Mattias weiterleben. Es sind Menschen, die Mattias unterschiedlich nah standen und so setzt sich aus all diesen Erzählungen für die Leserschaft ein Bild von „Mattias“ zusammen. Vor allem handelt dieses Buch aber von den Spuren, die er hinterlässt. Ein sehr trauriger und dennoch tröstlicher Titel.

Diogenes Verlag, ISBN: 978-3-257-07129-0, 240 Seiten


„Zwischen uns und morgen“ von Peter Zantingh

Robin hat sich am Morgen mit seiner Freundin Tess gestritten. Man weiß zu Beginn nicht, was zwischen den beiden vorgefallen ist, und merkt nur die Dringlichkeit, die für den jungen Mann geboten ist, sofort aufzubrechen und seiner Lebensgefährtin zu folgen.

Tess ist Illustratorin und auf dem Weg zu einer Buchvorstellung in Süddeutschland. Robin will ihr mit der Bahn von Utrecht aus folgen. Dafür führt ihn sein Weg durch das von der Sturmflut verwüstete Ahrtal.

Während der Zugfahrt resümiert er seine Vergangenheit. Er hatte sich immer für die Umwelt eingesetzt und viel darüber nachgedacht, was die nachfolgende Generation noch erwarten kann. Beherrscht werden seine Überlegungen davon, ob es in der heutigen Zeit, die von sich häufenden Naturkatastrophen geprägt ist, überhaupt zu verantworten ist, ein Kind in die Welt zu setzen. Und genau darüber will Robin mit Tess reden.

Das sehr Besondere an diesem Buch ist, dass Zantingh eine Art Experiment mit der Leserschaft wagt. Während der gesamten Zugfahrt ist für die Leser*innen nicht eindeutig zu erkennen, ob Robin bereits Vater ist oder ob er darüber nachdenkt, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden. Während er sich also in der eine Szene liebevoll um einen zwei- bis dreijährigen Sohn kümmert, ist er in der nächsten Szene wieder allein mit seinen Gedanken über die Verantwortung, die er trägt.

So beleuchtet Peter Zantingh immer wieder andere Blickwinkel. Der Autor ist selbst Vater eines Sohnes und sagte in einem Interview, dass Eltern zum einen wollen, dass ihr Kind/ihre Kinder da sind, weil sie sie so sehr lieben. Und zum anderen ist es genau diese Liebe, die begründet, dass man sich wünscht, die Kinder seien nicht da, damit sie nicht einer Zukunft ausgeliefert sind, die eine Katastrophe für die Menschen und die Erde sein wird.

Ein neuer Zantingh! Ein Roman über die Sinnsuche in unserer Zeit. Wieder einmal traurig und sehr schwermütig und wieder einmal trifft er einen durchaus tröstlichen Ton. Außerdem zeigt der Autor, wie ich finde, sehr gut, in welcher Situation sich die Generationen (gerade noch meine, aber viel mehr noch die, die jünger sind) befinden und was ihre Beweggründe sind, sich für oder gegen Kinder zu entscheiden.

Diogenes Verlag, ISBN: 978-3-257-07289-1,176 Seiten


„Und es schmilzt“ von Lize Spit

Ein wortwörtlich erschütternder Roman, in dem es um Eva geht, die mit einem Eisblock im Kofferraum in den Ort ihrer Kindheit zurückfährt und dort ihren Dämonen der Vergangenheit begegnet: Die Erinnerung an ihre betrunkene Mutter und an den tyrannischen Vater und vor allem an die Menschen, von denen sie glaubte, es seien ihre Freunde, die ihr allerdings Schlimmstes zufügten.

Lize Spit besitzt die Gabe, psychische Abgründe auszuleuchten und unerbittlich zu beschreiben, was unter der Oberfläche, scheinbar gefestigter bürgerlicher Beziehungen, schlummert.

Die Autorin sagte selbst über diesen Roman: „Es ist das Buch meiner Karriere. Ich glaube nicht, dass ich noch einmal etwas schreiben werde, das solch eine Wirkung hat.“ 

S. Fischer Verlag, ISBN: 978-3-596-29837-2, 512 Seiten


„Ich bin nicht da“ von Lize Spit

Es geht um die intensive Liebe zwischen Leo und Simon, aber Leo muss eines Tages feststellen, dass Simon psychisch krank ist. Er ist manisch und leidet unter Paranoia. Die Situation spitzt sich extrem zu, so dass Leo erkennen muss, dass sie Simon zwar liebt, aber ihm nicht helfen kann und er sogar gefährlich für sie und ihre Mitmenschen ist.

Lize Spit ist eine Meisterin im Aufbau von Spannung. 

S. Fischer Verlag, ISBN: 978-3-596-70696-9, 576 Seiten


„Der ehrliche Finder“ von Lize Spit

Eine Novelle als Auftragsarbeit. In den Niederlanden und in Flandern findet jedes Jahr die „Bücherwoche“ statt. In dieser Woche gibt es für die Kunden ein Bücherwochengeschenk, wenn sie in einer niederländischen oder flämischen Buchhandlung ein niederländisches Buch kaufen. Es sind übrigens häufig Schriftsteller*innen von Format, die den Auftrag erhalten zu einem bestimmten Thema eine Geschichte zu schreiben, die den Umfang von 100 Seiten nicht überschreiten darf. Übrigens war das Bücherwochengeschenk 1938 eine Novelle von Marianne Philips.

Lize Spit schrieb das Buch „Der ehrliche Finder“ also unter konkreten Rahmenbedingungen.

Es handelt von der Familie Ibrahimi. Sie sind kosovarische Albaner, die vor den serbischen Angriffen 1999 nach Belgien flohen.

Sie werden in einem kleinen Ort aufgenommen und schließen rasch Freundschaften. Vor allem der 11jährige Tristan integriert sich schnell und befreundet sich mit dem 9jährigen Jimmy. Für den Außenseiter Jimmy ist es das erste Mal, dass er einen Freund hat und so ist der Schmerz groß, als die Abschiebung der Ibrahimis angeordnet wird. Aber Tristan hat einen Plan, von dem er Jimmy berichtet. Er hat von einem Flüchtlingsjungen gehört, der jemanden aus einem brennenden Haus gerettet hat und fortan durften er und seine Familie als Ehrenbürger für immer bleiben. Also muss er nur dafür sorgen, ein Held zu werden und dabei muss ihm Jimmy helfen.

Als Leser*in ahnt man sehr bald, dass dieser Plan kein gutes Ende nehmen kann.

Lize Spit hat eine Geschichte geschrieben, die uns Außenstehenden sehr deutlich vor Augen führt, was Menschen in Kriegsgebieten erleben müssen und welche Traumata diese Erlebnisse hervorrufen. Aus dem kindlichen Blick des neunjährigen Jimmy erfahren wir ungeschminkt davon. Ich möchte Ihnen gerne eine Szene schildern: Jimmy freut sich so sehr darauf, endlich bei seinem Freund Tristan schlafen zu dürfen. Die Ibrahimis haben ein Zimmer, in dem sämtliche Matratzen liegen. Als Einzelkind kann er sich nichts schöneres vorstellen, als mit Tristan und seinen Geschwistern vor dem Schlafen noch dort zu toben und er fiebert auf den Abend hin. Aber das zu Bett gehen gestaltet sich ganz anders. Die Familie schließt sämtliche Türen hinter sich ab und das Licht im Schlafraum bleibt angestellt. Wenn jemand zur Toilette muss, steht ein Eimer zum Urinieren in der Ecke. Und die ganze Nacht ist von den Schreien der Familienmitglieder erfüllt, denn ihr Schlaf wird von Alpträumen beherrscht.

Lize Spit hat es in dieser Geschichte aber auch geschafft, sehr warmherzig über Freundschaft und über eine herzliche und hilfsbereite Dorfgemeinschaft zu erzählen. Und dennoch zeigt sie einmal mehr, dass es manchmal nur einer Kleinigkeit bedarf und alles entgleist.

Im Gegensatz zu den beiden Vorgängern handelt es sich bei „Der ehrliche Finder“ um ein sehr kleines Büchlein, aber glauben Sie mir, es ist absolut lesenswert!

S. Fischer Verlag, ISBN: 978-3-10-397564-2, 128 Seiten


„Jaguarmann“ von Raoul de Jong

Raoul de Jong ist halb niederländischer und halb surinamischer Herkunft. Er ist in den Niederlanden als Autor und Kolumnist tätig und sehr bekannt durch seine Podcasts und weil er häufiger im niederländischen Fernsehen zu sehen ist.

Suriname war über 150 Jahre lang eine niederländische Kolonie und als es 1975 als unabhängig erklärt wurde, zogen viele surinamische Menschen in die Niederlande.

In dem Buch „Jaguarmann“ erzählt der Autor von der Suche nach seinen Wurzeln. Es ist ein autobiografisches Buch. Ich spreche extra von „Buch“, weil es so viele Genres in sich vereint. So ist es eine Autofiktion, ein Abenteuerroman, ein Sachbuch, ein Reisebericht, ein Märchen und wahrscheinlich noch vieles mehr!

Zum Inhalt: Der Erzähler und Protagonist Raoul de Jong wurde 1984 als Sohn einer niederländischen Mutter und eines surinamischen Vaters in den Niederlanden geboren. Er wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, die Eltern trennten sich noch vor der Geburt Raouls, und er lernt seinen Vater erst mit 28 Jahren kennen.

Bei einem der ersten Treffen mit seinem Vater erfährt er von einem Ahnen, der ein „Jaguarmann“ in Suriname gewesen sei. Er besaß nicht nur die Kräfte des Tiers, sondern konnte sich auch in dieses verwandeln. Raoul begibt sich auf die Suche nach seinen Wurzeln.

Er liest von surinamischen Autoren, die in diesem Buch allesamt Erwähnung finden und im Quellenverzeichnis angehängt sind. Er reist nach Südamerika, in den Regenwald, nach Suriname. Dort spricht er mit Menschen, die dort leben, mit Forscher*innen und Wissenschaftler*innen, mit Priester*innen und Literat*innen und so erfahren wir im Laufe des Buches sehr viel über die ehemalige niederländische Kolonie. Wir erkennen aber auch, wie das Volk der Suriname den Jaguar in alles Schöne einbindet. Er ist Teil der Poesie, der Musik, im Tanz und im Gesang. Und er ist auch noch heute im Jazz, Hip-Hop oder bei der Sängerin Beyoncé zu finden. Raoul de Jong glaubt, dass die Suriname nur durch die Kraft des Jaguars der Ausbeutung standhalten konnten und dieses positive möchte er weitergeben. Er spricht selbst von folgender Intention, die er mit seinem Buch verfolgt: „Ich denke, indem man mein Buch liest, wird man ein besserer, sanftmütigerer Mensch, weil es darum geht, wie man die Welt schöner machen kann, egal, welche Hautfarbe man hat oder woher man kommt. […] Sei ein Jaguarmann! Das muss man sich jeden Tag aufs Neue vornehmen. Man ist es nie ein für allemal, man wird es durch die Dinge, die man tut, und die Entscheidungen, die man trifft. Dafür muss man nicht braun, oder halb surinamisch sein, sondern einfach nur ein Mensch. Eine einzelne Person kann viel verändern. Halte die Augen offen, schwimm nicht im Strom mit und finde dich nicht damit ab, dass die Dinge geschehen, weil sie nun mal geschehen.“

Schön, nicht wahr?

Dennoch muss ich ganz ehrlich zugeben, dass mir der Zugang zu diesem Buch etwas versperrt blieb. Da war mir zu viel Mystik und Mythologie und dann wieder zu wenig persönliche Geschichte. Man erfährt kaum etwas über Raouls engere Familie, insbesondere über den Vater und seinen Lebensweg als Suriname in den Niederlanden. Wahrscheinlich hatte das Buch für mich zu wenig Identifikationspotenzial und hat mich damit zu stark auf Distanz gehalten.

Aber schauen Sie einfach selbst. Als Sachbuch schließt es eine Wissenslücke über das Thema Kolonialismus. In den niederländischen Medien spielen Suriname, die niederländischen Antillen oder Indonesien jeden Tag eine Rolle. Das Thema „Kolonialismus und seine Folgen in der heutigen Zeit“ wird in der neueren Literatur kritisch aufgegriffen und benannt.

EuregioKultur e.V., ISBN: 978-3-9818894-7-5, 280 Seiten


„Trophäe“ von Gaea Schoeters

Gaea Schoeters wurde 1976 in Belgien geboren und ist als Autorin, Journalistin und Drehbuchautorin tätig. 

In ihrem Roman „Trophäe“ geht es um die Trophäenjagd in Afrika. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Ein Thema, bei dem ich sofort schlechte Laune bekomme und das ganz bestimmt kein Leseinteresse bei mir weckt. Ich habe dieses Buch also tatsächlich nur in die Hand genommen, weil kein Weg daran vorbeiführte, als die Idee entstanden war, eine Veranstaltung über Bücher aus dem niederländischen Sprachraum zu machen. Alle Kritiken überschlugen sich vor Lob und egal, welchen Leser ich traf, jeder war begeistert.  Und so viel vorneweg: Ich bin auch begeistert! Also ist dieses Buch, diese Trophäe, der krönende Abschluss des Abends und meine absolute Leseempfehlung!

Zum Inhalt: Hunter White ist ein steinreicher, westlicher Alphamann, der Unsummen für die Trophäenjagd ausgibt. Dabei sieht er sich nicht als jemanden, der ein perverses Reiche-Leute-Hobby ausübt. Er ist Artenschützer, denn er schießt nur auf die Tiere, die alt oder schwach und somit eher eine Last für die Herde sind. Außerdem unterstützt er die lokale Bevölkerung, denn die hohen Summen, die er für Jagd-Lizenzen zahlt, dienen der Dorfgemeinschaft u.a. dazu, Schulen aufzubauen. Wenn also die Trophäenjagd einen wirtschaftlichen Aufschwung bedeutet, ist die Bevölkerung bereit, die Tiere vor Wilderern zu schützen. Eine Win-Win-Situation für den leidenschaftlichen Jäger, der in seinem anderen Leben erfolgreich an der Börse spekuliert.

Diesem verantwortungsvollen Mann fehlt nun noch eine Trophäe, damit er seine „Big Five“ erlegt hat: Elefant, Büffel, Löwe und Leopard konnte er schon erlegen, aber ein Nashorn fehlt ihm noch. Als sein alter Freund und Jagdbegleiter Van Heeren ihm das Angebot machen kann, dass in dem Territorium, das er betreut, ein altes Tier lebt, welches er erlegen kann, kauft Hunter die Lizenz für 500.000 Dollar, ohne mit der Wimper zu zucken. Sofort erkennt man, dass er es nicht tut, um die afrikanische Wirtschaft anzukurbeln, sondern weil er in Afrika nichts anderes als sein persönliches Vergnügungsland sieht. Sein augenscheinliches Verantwortungsbewusstsein, kein jüngeres Tier zu schießen, ist lediglich der Angst geschuldet, dass Umweltaktivisten ein Jagdverbot erwirken könnten.

Dann wird Hunter allerdings um seine Möglichkeit, die Big Five voll zu machen, beraubt: Wilderer kommen ihm zuvor und erlegen sein Nashorn. Er hätte nun die Möglichkeit laut Vertrag, das Geld von Van Heeren zurückzuverlangen, doch dieser macht ihm ein Alternativangebot. Er könne ihm die „Big Six“, also eine sechste Spezies anbieten. Und mit dieser Erfindung der Autorin, die hoffentlich wirklich nur eine Erfindung ist, wird der Leserschaft nun der Boden unter den Füßen weggezogen. Van Heeren bietet Hunter White die Jagd auf einen Menschen an.

Wenn das Buch schon vorher mit absoluter Spannung zu lesen war, beginnt nun ein (nach diesem Wort habe ich lange gesucht) adrenalinschwangerer Ritt an die Grenzen von Gut und Böse, bei dem ich mir immer wieder gewünscht habe, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Wie auch immer dieses gute Ende dann aussehen mag, … und dieser Frage muss man sich als Leser*in stellen!

Der Roman ist nicht nur ein Dschungel-Thriller, sondern viel mehr eine Aufforderung dazu, seine eigenen Denkmuster zu hinterfragen. Wie bei einem Buch von Schirach muss sich die Leserschaft der Frage stellen, wie hoch der Wert des einzelnen gegenüber dem Wohl der Gemeinschaft ist. Allerdings hat Schoeters diese philosophische Frage in einen abgründigen, finsteren und unvergesslichen Pageturner verpackt.

Trophäe ist ein Roman, den man nicht wieder vergessen wird! Meine absolute Leseempfehlung!

Zsolnay Verlag, ISBN 978-3-552-07388-3, 256 Seiten